Angesichts des Lehrermangels gewähre ich einen Blick hinter die Kulissen des Lehrer:innen-Daseins. Du erfährst:
+ warum Christoph Wiederkehrs Erkenntnis reichlich spät kommt
+ wie Menschen mit Gegenständen gleichgesetzt werden
+ was hinter dem vielzitierten Halbtagsjob steckt
+ wie die Grundrechenarten im Schulsystem genützt werden
+ und dass „Sozialschmarotzer“ eine Studienrichtung ist
Kurz der Background: Ich war 27 Jahre lang Lehrerin im österreichischen Schulsystem. Letzten Endes bat ich um einvernehmliche Auflösung des Dienstvertrags und orientierte mich neu. Um mich in meinem neuen Bereich zu bewerben, rief ich bei der Bildungsdirektion an, wie immer Kafkas Schloss, und fragte nach einem Dienstzeugnis. So etwas gebe es nicht, wurde mir gesagt. Ich gab mich damit nicht zufrieden und bat in einem Mail nochmals um ein solches.
Was dann passierte, sagt alles darüber aus, wie man als Lehrerin vom Dienstgeber gesehen wird:
Es kam wohl die Lesebestätigung, jedoch keine Antwort. Heute ging ich zu meinem Briefkasten und fand dort ein Schreiben der Bildungsdirektion vor. Darin mein Dienstzeugnis. Kommentarlos, keine Anrede, keine freundlichen Grüße (stattdessen: „Für den Bildungsdirektor:“ – getippte Unterschrift des Zuständigen), kein Wort also an mich, Dank nach all den Jahren sowieso nicht. Der erfolgte auch nicht im Zuge der Auflösung des Dienstverhältnisses.
Das Zeugnis beinhaltete die bloße Bestätigung, dass ich – und jetzt kommt’s! – vom Soundsovielten des Jahres soundso bis zum Soundsovielten des Jahres sowieso in „Dienstverwendung“ stand. Das im Schulsystem gegenüber den dort angestellten Menschen gebräuchliche Vokabular sagt eigentlich alles darüber aus, wie man die ganze Zeit über behandelt wird. Man wird verwendet. Wie ein Gegenstand.
Bist du neben einer noch an einer weiteren Schule tätig, bezeichnet der Dienstgeber dies als „Mitverwendung“ – Frau Mag. Soundso wird an einer anderen Schule mitverwendet.
Heute lese ich in einem ORF-Artikel über den Lehrkräftemangel und dass frisch rekrutierte Lehrer:innen teils ohne Vertrag arbeiten, ohne versichert zu sein und ohne bisher ein Gehalt erhalten zu haben. Im Artikel wird der Wiener Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr zitiert, der meinte, der Lehrberuf müsse wieder „attraktiviert werden“.
Da kommt man früh drauf… All die 27 Jahre durfte ich mich von unserer Gesellschaft gleich im Kollektiv als faul hinstellen lassen und mir sagen lassen, ich hätte einen Halbtagsjob. In Normalzeiten umfasste meine wöchentliche Arbeitszeit etwa 50 Stunden, während der Hoch-Zeit von Corona waren es ca. 70, und es gab ein Jahr lang nicht einmal mehr das occasional weekend wie davor. Es ist All-In. Die allermeisten Mehrstunden werden nicht bezahlt. Da hat man sich gefinkelte Regelungen einfallen lassen, um das möglichst zu umgehen.
Meine Entlohnung für die Korrektur der Klausurarbeiten belief sich auf 4 Euro netto. Diese Arbeit ist zusätzlich zur bereits vollen Lehrverpflichtung zu erledigen, und man hat nicht einmal eine Woche Zeit dafür. Beispiel: Bei 27 Maturant:innen waren das weitere 40 Stunden in jener Woche, gesamt also 80. Pfingstwochenende gab es für mich keines. Das wird als selbstverständlich angesehen. Tu irgendwie, dein Problem! Es kräht kein Hahn danach.
Side note: Für den Unterricht in einer Maturaklasse bekommst du das ganze Jahr weniger bezahlt als etwa für eine Erste, weil deren Schuljahr ein bisschen kürzer ist.
Highlight dessen, was ich mir alles sagen lassen musste, damals bereits als Lehramtsstudierende von jemandem, der mich nach meiner Studienrichtung gefragt hatte: Ich sei also – wörtlich – ein Sozialschmarotzer. Ich werde diese Aussage nie vergessen.
Zurück zum späteren Arbeitsalltag: Deine sämtlichen Schreibmaterialien darfst du dir auch selbst bezahlen, jeden Stift, jeden Schreibblock, jede Klarsichthülle. Die Ersparnis für den Dienstgeber allein dadurch multipliziere man mit der Anzahl der Lehrkräfte in Österreich. Im Homeoffice hatte ich selbstverständlich meinen privaten Laptop über meinen privat bezahlten Internetanschluss und meinen privaten Drucker mit privat bezahlten Druckerpatronen zu verwenden. Auch das darf auf ganz Österreich aufgerechnet werden.
Das Ganze in meinem privat eingerichteten Büro auf meiner privaten Wohnfläche, die es ebenfalls zu bezahlen gilt – ob mit Miete oder Quadratmeterpreis beim Wohnungskauf. Dieses Büro brauchte ich seit jeher in dem Job. An den Schulen hast du mit etwas Glück eine Tischfläche von 50 x 50 cm zur Verfügung, mit noch mehr Glück ein kleines Kästchen dazu.
Für 60 Lehrkräfte, die dort sitzen wie die Sardinen, gab es an meiner letzten Schule 6 Computerplätze und 2 Drucker. Hier wird also statt multipliziert lieber dividiert.
Du kommst gar nicht umhin, dir zu Hause ein Arbeitszimmer für all deine Materialien und Unterlagen einzurichten. Wenn du dann aber das Schulgebäude verlässt, um den Großteil deiner Arbeit daheim zu erledigen, was darfst du dir wieder nachsagen lassen? Genau: Die geht am frühen Nachmittag heim! Und: „Lehrer haben am Vormittag Recht und am Nachmittag frei.“ Dass sie zwei schwere Taschen dabeihat, wird übersehen. Die schleppt sie nicht zum Spaß hin und her.
Zum Drüberstreuen: Willst du von der Privatwirtschaft in den Lehrberuf wechseln, erwarte dir bei Fortbildungen keine Snacks mehr, keinen Kaffee und auch kein Leitungswasser – außer du holst es dir im mitgebrachten Behälter aus der Leitung auf dem WC. Hast du den vergessen, musst du es direkt aus der Leitung trinken. Glas steht keines bereit. Zu viel Aufwand für deinesgleichen. Wer bist du denn schon? Dein Mittagessen zahlst du dir sowieso selbst – ohne Diäten. Brauchst du eine Übernachtung, legst du dich in ein Stockbett in einem abgetakelten Internat. Keine Fiktion. Keine Übertreibung. Alles Usus. Alles erlebt.
„Wir wollen die Besten der Besten!“ Dieser Satz klingelt mir noch immer im Ohr.
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08/10/2022 – © Made4Gravity